In den Ruinen Assurs, der am Tigris gelegenen assyrischen Königsresidenz, wurden bei Ausgrabungen der Deutschen Orientgesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts (außer den mehr als 5.300 Schriftzeugnissen auf Ziegeln und anderen Objekten aus Ton, Stein und weiteren Materialien) insgesamt etwa 11.000 Tontafeln und Tontafelfragmente geborgen. Der größere Teil dieser Zeugnisse altorientalischer Schriftkultur befindet sich heute im Vorderasiatischen Museum zu Berlin.

Der Ruinenhügel von Assur in einer genordeten Satellitenansicht; rechts ist der Tigris sichtbar.

Der Ruinenhügel von Assur in einer genordeten Satellitenansicht; rechts ist der Tigris sichtbar.

Neben einer ganzen Reihe von teilweise sehr umfangreichen Tontafelarchiven, in denen sich wichtige keilschriftliche Dokumente der assyrischen Tempel-, Palast-, Provinz- und Reichsverwaltung sowie Zeugnisse privatwirtschaftlicher Aktivitäten aus mittel- und neuassyrischer Zeit (ca. 1500 v. Chr. – 614 v. Chr.) erhalten haben, wurden in Assur – wie an kaum einem weiteren Ort des Alten Orients – in sehr großem Umfang ›literarische‹ Keilschrifttexte, also in den ›Strom der Überlieferung‹ gelangte narrative, religiöse und gelehrte Schriftdokumente, gefunden. Diese sog. literarischen Keilschrifttexte aus Assur enthalten Königsinschriften und Chroniken, gesetzliche Regelungen und Erlässe, Erzählungen historischer und mythischer Art, Fabeln und Lebensweisheiten. Vorschriften für Festabläufe und andere religiöse Handlungen finden sich ebenso darunter wie Gedichte, Lieder, Gebete und – neben vielem anderen – vor allem auch sehr umfangreiche Schriftwerke, in denen das spezielle Fachwissen aus den Disziplinen des altorientalischen Gelehrtenwesens niedergelegt ist. Hierzu zählen neben zahlreichen medizinischen und pharmakologischen Traktaten, astronomische und astrologische Texte, Wörterbücher, grammatische und lexikalische Texte und nicht zuletzt ›Handbücher‹ für die vielfältigen Verfahren der Zukunftsdeutung sowie die Beschreibung von Verfahren zur Unheilsbeseitigung und Heilsbewahrung.

Reste einer Gelehrtenbibliothek in Assur bei ihrer Auffindung.

Reste einer Gelehrtenbibliothek in Assur bei ihrer Auffindung.

Pharmazeutisches Handbuch mit Therapieanweisungen, gefunden in einer Gelehrtenbibliothek in Assur. Berlin, Vorderasiatisches Museum VAT 8256.

Pharmazeutisches Handbuch mit Therapieanweisungen, gefunden in einer Gelehrtenbibliothek in Assur. Berlin, Vorderasiatisches Museum VAT 8256.

Zahlreiche dieser Texte ›literarischen‹ Inhalts werden, seitdem sie in Assur ›in Gebrauch‹ waren, in der Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Edition literarischer Keilschrifttexte aus Assur erstmals wieder gelesen.

Die Forschungsstelle ist damit befasst, die in Assur gefundenen Schriftzeugnisse zu katalogisieren und dabei das Corpus der ›literarischen‹ Texte aus Assur systematisch zu erfassen sowie die bislang nicht oder nur unzureichend veröffentlichten Schriftstücke gemäß den höchsten editionsphilologischen Standards in Monographien vozulegen. Diese bilden die Reihe Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (KAL). Von den 22 geplanten Bänden sind sechs erschienen, weitere Bände sind im Druck.

Ein Mitarbeiter der Forschungsstelle bei der Erstellung einer digitalen Keilschrifttext-Autographie.

Ein Mitarbeiter der Forschungsstelle bei der Erstellung einer digitalen Keilschrifttext-Autographie.

Ziel ist es, mit der umfassenden Edition dieses reichhaltigen Textbestandes Schriftzeugnisse, die für weitere Forschungen auf dem Gebiet der Altorientalistik, der Altertumswissenschaften sowie der Religions- und Wissensgeschichte hochbedeutsam sind, zugänglich zu machen und so dazu beizutragen, dass sich neue Einblicke in die Wissenswelten eines Kulturkreises eröffnen, der jahrtausendelang eine enorme politische und kulturelle Dynamik entfaltet hat.