Die Grundlagen des modernen nepalesischen Nationalstaats gehen auf die Expansionsbestrebungen Pṛthvī Nārāyaṇa Śāha, König von Gorkha, zurück, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sein Herrschaftsgebiet um zahlreiche Kleinstaaten im Himalaya-Raum sowie das wohlhabende Kathmandu-Tal erweiterte. Diese Eroberungskriege markierten nicht nur den Aufstieg der Śāha -Dynastie, die bis 2007 die nepalesischen Könige stellte, sondern auch den Beginn eines Staatenbildungsprozesses, der soziale und religiöse Institutionen in Nepal nachhaltig veränderte, neue Formen kollektiver Identität prägte und bürokratische Strukturen etablierte.

In Folge davon erlebte der Himalaya-Staat eine rasante Zunahme in der Herstellung von Urkunden und Dokumenten. In der staatlichen Verwaltung, in Tempeln, in der Rechtsprechung und dem Wirtschaftsleben erreichte die Verschriftlichung eine neue Qualität. Die Forschungsstelle „Religions- und rechtsgeschichtliche Quellen des vormodernen Nepal“ widmet sich der Erforschung dieses seltenen historischen Materials aus Tempel-, Verwaltungs- und Rechtsdokumenten, die im Zuge des nepalesischen Staatenbildungsprozesses von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind und als einziges größeres nicht-koloniales Dokumentenkorpus Südasiens von besonderem historischem Interesse ist. Grundlage hierfür bilden Archivalien des nepalesischen Nationalarchivs und anderer staatlicher Organisationen, die von der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft mikroverfilmt wurden, aber bis auf wenige Ausnahmen weder in Edition und Übersetzung vorliegen noch eingehend wissenschaftlich bearbeitet wurden.

Ziel der Forschungsstelle, die neben Heidelberg auch eine Arbeitsstelle in Kathmandu unterhält, ist es, dieses einzigartige Dokumentenkorpus systematisch zu untersuchen und ausgewählte Dokumente in Edition und Übersetzung zu veröffentlichen. Im Zentrum steht dabei der Aufbau einer öffentlich zugänglichen Datenbank, die Einträge zu den einzelnen Dokumenten enthält und komplexe Suchanfragen ermöglicht – ein Novum in der Erforschung südasiatischer Dokumente. Gleichermaßen sollen die bearbeiteten Dokumente im Lichte übergeordneter kulturgeschichtlicher Fragestellungen wie der Entwicklung von Elitekulturen, der Legitimation und Inszenierung von Herrschaft, Formen von Religionspolitik, der Kodifizierung von Recht und der Herausbildung öffentlicher Ordnung untersucht werden. Damit wird es möglich, ein facettenreicheres Bild der sozio-kulturellen Transformationsprozesse Nepals vom späten 18. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zeichnen.

Ein pañjāpatra von König Rājendra (1846), National Archives Kathmandu. Foto: Manik Bajracharya.

Ein pañjāpatra von König Rājendra (1846), National Archives Kathmandu. Foto: Manik Bajracharya.