Friedrich Nietzsche (1844–1900) gehört zu den zentralen und wirkungsmächtigsten Denkerpersönlichkeiten der Moderne. Eine fast unüberschaubare Flut von Publikationen beschäftigt sich mit seinem Werk, das fundamentale Bedeutung nicht nur für die philosophische Diskussion, sondern auch für die Literatur, Anthropologie, Psychologie, Religions- und Kulturkritik hat. Umso erstaunlicher ist es, dass es bis heute keinen übergreifenden Kommentar zu seinem Gesamtwerk gibt, der die philosophischen, historischen und literarischen Voraussetzungen aufarbeitet und die Wirkungsgeschichte der von Nietzsche publizierten Bücher erschließt. Diese Lücke ist auch dadurch bedingt, dass die Nietzsche-Forschung schon seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts den Nachlass überbewertete und die von Nietzsche selbst veröffentlichten Bücher vernachlässigte. Die Nachberichtsbände der Historisch-kritischen Ausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, die aufgrund der editionsphilologischen Schwerpunktbildung im Bereich der Kommentierung bewusst zurückhaltend bleiben, bieten nur wenige Hinweise. Umso dringlicher ist angesichts von Nietzsches exzeptioneller Wirkung die Erarbeitung eines wissenschaftlichen, interdisziplinär fundierten Basiskommentars zu Nietzsches Werken.

Friedrich Nietzsche, 1882 (Photographie von Gustav Adolf Schultze)

Friedrich Nietzsche, 1882 (Photographie von Gustav Adolf Schultze)

Interdisziplinarität

Interdisziplinarität ist in außergewöhnlicher Weise von Nietzsches Werken selbst gefordert. Es bedarf kaum des Hinweises darauf, wie intensiv der Altphilologe Nietzsche auf antike Literatur und Philosophie rekurriert, wie sehr der Sprachgestus der Bibel auf ihn wirkte und welche tiefen Spuren die neuzeitlichen philosophischen Traditionen, insbesondere die deutsche Literatur und Philosophie von der klassisch-romantischen Epoche bis ins späte 19. Jahrhundert hinterließen. Die französische Moralistik von Montaigne bis La Rochefoucauld regte den Aphoristiker Nietzsche an; die französische Aufklärung, besonders Voltaire, formierte die für seinen Denkhabitus maßgebende Konzeption des „freien Geistes“; außerdem orientierte er sich an den Exponenten einer „modernen“ Décadence-Diagnose von Baudelaire bis Bourget. Die historischen Umwälzungen von der Französischen Revolution bis zum Pariser Kommune-Aufstand forderten sein Denken nachhaltig heraus. Historische Analysen von Tocqueville bis Jacob Burckhardt bildeten für ihn wichtige Koordinaten. Positivismus und Historismus, Psychologie und Physiologie des 19. Jahrhunderts waren für ihn ebenso Meilensteine der geistigen Auseinandersetzung wie Schopenhauer, Wagner und Darwin.

Ähnlich vieldimensional ist die Wirkungsgeschichte Nietzsches, den Gottfried Benn das „größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte“ nannte. Es genügt, an Thomas Mann, Hofmannsthal, Musil, Benn, Freud und Heidegger sowie an die Wirkung Nietzsches im französischen Geistesleben von Gide bis zu Derrida zu erinnern, ferner an die ideologische und politische Sprengkraft, die der weltanschaulich vereinnahmte Nietzsche im 20. Jahrhundert erhielt; zu betonen ist auch seine Schlüsselstellung für die moderne Anthropologie und Kulturkritik.

Funktion des Kommentars

Der Nietzsche-Kommentar von Prof. Dr. Jochen Schmidt, Prof. Dr. Katharina Grätz, Dr. Sebastian Kaufmann, Prof. Dr. Barbara Neymeyr und Prof. Dr. Andreas Urs Sommer wird von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften getragen und ist am Deutschen Seminar (Abteilung für Neuere Deutsche Literatur) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angesiedelt. Er wird in sechs umfangreichen Bänden (fünf davon in je zwei Teilbänden) Nietzsches Werke in ihrem historischen Kontext erschließen und damit eine neue Basis für das Verständnis von Nietzsches Denken und Dichten schaffen.

Der Kommentar soll die bereits vorhandenen Forschungsergebnisse zusammenführen, systematisieren und erweitern. Die auf einzelne Textpartien bezogenen Erläuterungen werden durch einleitende Überblickskommentare in einen konzeptionellen, strukturellen sowie entstehungs- und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Intensive Kontext- und Quellenforschungen sind dafür unerlässlich.

In der ersten Phase wurden parallel die Werke der Jahre 1870 bis 1876 und des Jahres 1888/89 kommentiert (Band 1/1 und 1/2 sowie Band 6/1 und 6/2). In den beiden Teilbänden des ersten Bands, für die Jochen Schmidt und Barbara Neymeyr verantwortlich sind, stehen zunächst Nietzsches philosophische Anfänge unter dem Einfluss von Arthur Schopenhauer und Richard Wagner im Zentrum. Es handelt sich um die Schriften, in denen sich Nietzsches intellektuelles Profil herausbildet. Der sechste Band, dessen zwei Teilbände Andreas Urs Sommer verfasst hat, konzentriert sich auf die letzte Schaffensphase, in der Nietzsche auf ebenso voraussetzungsreiche wie herausfordernde Weise Moral und Christentum einer radikalen Kritik unterzieht und sein antipodisches Verhältnis zu Richard Wagner betont.

In der zweiten Phase werden parallel die Werke der Jahre 1881 bis 1887 kommentiert (Band 3/1 und 3/2, Band 4 sowie Band 5/1 und 5/2). Die beiden Teilbände des dritten Bands, die von Jochen Schmidt und Sebastian Kaufmann verfasst werden, gelten den aphoristischen Werken aus Nietzsches mittlerer Schaffensperiode nach der Wende von der metaphysisch-romantischen Weltanschauung des Frühwerks zur aufklärerisch-kulturpsychologischen Hinterfragung der „moralischen Vorurteile“. Der von Katharina Grätz bearbeitete vierte Band enthält den Kommentar zu Nietzsches Zarathustra, dem Werk, welches die grundlegenden Gedanken vom „Tod Gottes“, von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, vom „Übermenschen“ und vom „Willen zur Macht“ in einer zwischen Philosophie und Literatur oszillierenden Darstellungsweise vorträgt. Im Zentrum des fünften Bands, für dessen beide Teilbände Andreas Urs Sommer verantwortlich ist, stehen die Werke, in denen Nietzsche im Übergang zum Spätwerk die moralischen Wertvorstellungen der abendländischen Tradition genealogisch reflektiert und kritisch relativiert.

Konzeption

Die übergreifenden Problemzusammenhänge sowie die Leitvorstellungen werden in den Überblickskommentaren zu den jeweiligen Werken konzentriert dargestellt. Der Einzelstellen-Kommentar erläutert zwar Schlüsselbegriffe an den entsprechenden Stellen kontextbezogen, dient aber insgesamt vorrangig einer streng funktionalen Informationsvermittlung. Kernpartien werden intensiver erschlossen als marginale Aussagen. Insofern handelt es sich auch um einen gewichtenden Kommentar. In Nietzsches aphoristischen Schriften werden daher Aphorismen von besonderer Tragweite ausführlicher kommentiert als die eher beiläufigen. Auch dort, wo weitreichende Voraussetzungen für das Verständnis des Textes zu vermitteln sind, muss der Kommentar mehr bieten als bei relativ voraussetzungsarmen Aussagen. In der klassischen Philologie erfüllen Kommentare seit langem eine anerkannte und wichtige Funktion als werkorientierte Sammelstellen vorhandenen, aber zerstreuten Wissens sowie als sichtende und klärende Aufarbeitung der zum Verständnis der Texte dienenden Elemente. Große Kommentarleistungen zeichnen sich darüber hinaus durch die Qualität intensiven und umsichtigen Erschließens aus, so dass sie der Forschung eine dauerhafte Plattform bereitstellen. Eine besondere Aufgabe modernen Kommentierens besteht darin, die auf einzelne Textpartien bezogenen Erläuterungen durch vorangehende Übersichtskommentare in einen entstehungsgeschichtlichen, konzeptionellen, strukturellen und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen.