Hintergrund

Der Edition der Enzyklopädie des Gettos Lodz/Litzmannstadt gehen zwei weitere Textzeugen voraus, die den Alltag des Gettolebens wiederspiegeln: das in Auszügen veröffentlichte Tagebuch von Oskar Rosenfeld sowie die Getto-Chronik. Während Oskar Rosenfeld in seinem Tagebuch einen möglichst direkten Zugang zu den Getto-Ereignissen eröffnen möchte und die Chronik vor allem den Verlauf der Handlung schildert, versuchen die Autoren der Enzyklopädie eine Summe der Ereignisse und der aus ihnen hervorgegangenen Lebensformen im Getto zu ziehen. Wegen der komplizierten Überlieferungslage waren zunächst umfangreiche Vorstudien zur Klärung der Textgestalt erforderlich, mit der Edition kann daher erst jetzt begonnen werden.

Die Enzyklopädie wurde von deportierten Wissenschaftlern, Schriftstellen und Journalisten seit Frühjahr 1944 auf Karteikarten angelegt. Geplant war eine Zusammenstellung des gesammelten Wissens über Lebensumstände, Personen, Institutionen und vor allem über den Sprachgebrauch im Getto. Die Karteikarten sind überwiegend auf Deutsch, aber auch auf Polnisch und Jiddisch verfasst und bilden damit auch die Sprachenwelt des Gettos ab. Die Zeit reichte den Autoren bis zu ihrer Deportation und der Auflösung des Gettos nicht aus, um das gesamte Projekt in die Tat umzusetzen. Erhalten sind 689 Karten, eine am Beginn des Projekts angelegte Lemmaliste (siehe Abb. 2) gibt aber Aufschluss über den Gesamtplan. Scheinbar retrospektiv stellen die Autoren wichtige Persönlichkeiten und Institutionen vor und erläutern Begriffe, die entweder neu entstanden waren oder im Getto eine andere Bedeutung bekommen hatten als in der Vorkriegszeit. Die Originale werden in Archiven in Polen, Israel und den USA aufbewahrt und sind teilweise vom Verfall bedroht – umso notwendiger ist eine Edition.

Das Getto

Das Getto Lodz/Litzmannstadt wurde Ende 1940 von den deutschen Besatzern eingerichtet und seitdem mussten 160.000 Menschen darin leben. Es bestand bis zu seiner Auflösung im August 1945. Zu diesem Zeitpunkt existierten die meisten Gettos bereits nicht mehr und die meisten der etwa 70.000 dort noch lebenden Menschen wurden nach Auschwitz-Birkenau deportiert und in Gaskammern ermordet.

Innerhalb des Gettos funktionierte eine weitverzweigte jüdische Verwaltung, deren Aufgabe darin bestand, die Befehle und Anordnungen der deutschen Machthaber in den Grenzen des Gettos umzusetzen. Auf diese Weise verlagerten die Besatzer viele Konflikte in das Getto, da sie selbst oft im Hintergrund blieben und die Getto-Bewohner die jüdische Verwaltung mit dem sogenannten Judenältesten Mordechai Chaim Rumkowski an der Spitze für die Maßnahmen und für ihre Not verantwortlich machten.

Zu einer weiteren Verschärfung der inneren Konflikte trugen der autoritäre Führungsstil und ein Hang zur Selbstherrlichkeit bei Rumkowski bei. Überdies verfolgte er die Strategie, das Getto zu einer produktiven Arbeitsstätte für deutsche Belange umzubilden, auf die die Deutschen angewiesen sein sollten. So erhoffte er sich, ein Überleben zumindest der arbeitsfähigen Menschen erreichen zu können. (vgl. www.getto-chronik.de)

Die Enzyklopädie

Die Mitarbeiter des Archivs selbst waren sich darüber im Klaren, wie wichtig ihre Aufzeichnungen für die Nachwelt sein würden. Oskar Rosenfeld erläuterte das Projekt ›Getto-Enzyklopädie‹ selbst Ende 1943 folgendermaßen:

»Nirgends in der Welt gab es eine Gemeinschaft von Menschen, die mit der des Gettos verglichen werden könnte. […] Der Wandel der Lebensformen erzwang den Wandel der Begriffsformen. Wort und Wortfolgen genügten nicht mehr den Ansprüchen der Gettowelt« und weiter: »Eine Sammlung dieses Sprach- und Wortgutes bildet einen Teil der Kulturgeschichte des Gettos. In einer späteren Epoche, die der Erforschung des Gettos angehören wird, wird solch eine Sammlung, solch eine Enzyklopädie dort Aufklärung geben können, wo die blosse Schilderung der Zustände nicht ausreicht« (O[skar] R[osenfeld]: Enzyklopädie des Gettos: YIVO, RG 241/859).

Die Getto-Enzyklopädie sollte also ein Baustein zu einer ›Kulturgeschichte des Getto‹ sein und neben Institutionen, Ereignissen und Personen vor allem auch eine Annäherung an den Sprachgebrauch im Getto bieten. Dadurch und durch eine sorgfältige Einführung und Kommentierung der einzelnen Enzyklopädie-Einträge wird das Editionsprojekt einen gewichtigen Beitrag zur Sprache im Getto Lodz/Litzmannstadt leisten.

Die einzelnen Kärtchen lassen sich unterschiedlichen Themengebieten zuordnen und enthalten Auskünfte zu fast jedem Aspekt des Gettolebens. Bestimmte, besonders häufig aufgegriffene Themen wie ›Ernährung‹, ›Heizmaterial‹, ›Krankheit‹ und die ›Institutionen der deutschen Behörden‹ zeugen von der alles überragenden Wichtigkeit dieser Aspekte im Gettoalltag. Die sachliche Sprache der meisten Kärtchen ist der Textsorte ›Enzyklopädie‹ angelehnt, auch dann, wenn auf den in der Getto-Chronik immer wieder beschriebenen ›Getto-Humor‹ verwiesen wird, der auch Teil der Sondersprache des Gettos ist.

Abbildung 1: Karte zum Schlagwort TRIUMVIRAT verfasst von Oskar Rosenfeld. Hier kommt die Dreisprachigkeit Deutsch – Polnisch – Jiddisch zum Ausdruck.

Abbildung 1: Karte zum Schlagwort TRIUMVIRAT verfasst von Oskar Rosenfeld. Hier kommt die Dreisprachigkeit Deutsch – Polnisch – Jiddisch zum Ausdruck.

Abbildung 2: Auszug aus der durch die Verfasser handschriftlich angelegten Lemmaliste der Getto-Enzyklopädie.

Abbildung 2: Auszug aus der durch die Verfasser handschriftlich angelegten Lemmaliste der Getto-Enzyklopädie.

Mit dieser Edition der ›Getto-Enzyklopädie‹ und ihrer kommentierenden Erschließung wird ein weiterer zentraler Text aus der Welt des Gettos Lodz/Litzmannstadt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er ist in besonderer Weise geeignet, einen sprachwissenschaftlichen Zugang zu den Texten der Opfer des Nationalsozialismus zu erschließen. Von entscheidender Bedeutung sind dabei einerseits die genauen Kenntnisse der Lebensumstände im Getto, ohne die alle Überlegungen zur Sprache an der Oberfläche bleiben. Zentral sind andererseits die Funktionen, die der Sprache von den Autoren im Getto bei der Auseinandersetzung mit ihren prekären Lebensumständen selbst zugeschrieben wurden.