I Einführung

Das Dissertationsprojekt wird sich mehreren sprachanalytischen Texten widmen, die von Karl Kraus zwischen 1935 bis 1936 verfasst wurden, und die nur im Kraus-Nachlass in Wien überliefert sind. Die Texte resultieren zum einen aus Kraus’ anfänglicher Unfähigkeit, sich zu den politischen Veränderungen – dem Machtwechsel durch die Nationalsozialisten in Deutschland – adäquat zu äußern, und sind somit von politisch-historischem Interesse; zum anderen verfolgte Kraus mit ihnen die Ausführung eines bestimmten, nur beiläufig erläuterten Plans, der für sein Sprachverständnis programmatisch ist.

II Zur Entstehung

Während der Bearbeitung der geplanten Einzelpublikation Die Sprache erwähnte Kraus 1934 in Warum die Fackel nicht erscheint die Planung eines »Sprachseminars«, dessen Motivation unmittelbar in Zusammenhang mit der Entstehung der nationalsozialistischen Diktatur stand. Jenes Vorhaben sollte den Zweck verfolgen, durch Vorführung von »Greueln der Satzbildung« »den Geheimnissen der abgründigsten und tiefsten Sprache näher [zu] kommen, deren unzüchtiger Gebrauch zu den Greueln des Blutes geführt hat.«1 Für Kraus korrelierte der sogenannte Sprachverfall stets mit politischen sowie gesellschaftlichen Missständen, diese Verbindung galt es aufzudecken. So wirft er in derselben Fackel-Ausgabe den Deutschen vor, alles zu können, »nur nicht Deutsch« und fordert den Leser auf, »mutig [zu] sein« und »Sprachlehre« zu betreiben.2 Mit der geplanten Umsetzung eines »Sprachseminars« versuchte Kraus nun offenbar, eine neue Form der Kritik einzuführen, die sich von der bisherigen unter der Rubrik Zur Sprachlehre gefassten unterscheidet.3

III Der Kraus-Nachlass in Wien

Der umfangreiche Nachlass im Kraus-Archiv der Wienbibliothek im Rathaus wurde 1998 durch den Ankauf der Sammlung Karl Kraus – Anita Kössler um etliche Handschriften erweitert. Diese Sammlung enthält zwölf »Entwürfe« zu einem Sprachseminar4 sowie mehrere sprachkritische Aufsätze,5 die in der Kraus-Forschung weitgehend unbekannt sind. Der Umstand lässt sich mit der späten Aufnahme der Sammlung ins Archiv erklären. Zwar wurde 1993 ein umfangreicher Katalog aller Archivmaterialien des Kraus-Archivs erstellt, allerdings konnte der Bestand Anita Kösslers zu diesem Zeitpunkt noch nicht berücksichtigt werden. Auch alle wissenschaftlichen Abhandlungen zu Kraus’ Sprachverständnis oder zur »Sprachlehre« sowie die beiden Werkausgaben konnten diese Entwürfe nicht mit einbeziehen, so dass sie der Öffentlichkeit bisher unzugänglich geblieben sind.

Wienbibliothek im Rathaus: ZPH 985; Ms 143, 1. Mit freundlicher Genehmigung der Wienbibliothek.

Wienbibliothek im Rathaus: ZPH 985; Ms 143, 1. Mit freundlicher Genehmigung der Wienbibliothek.

IV Zum Dissertationsprojekt

Von insgesamt 20 Texten sind zwölf handschriftlich überliefert, von den restlichen acht sind nach aktuellem Stand nur Typoskriptabschriften der Nachlassverwalter (u.a. Helene Kann, Philipp Berger, Leopold Liegler, Oskar Samek) erhalten. In der Dissertation setze ich mir die Aufgabe, dieses Konvolut zu edieren. Dabei werden die handschriftlich überlieferten Texte in einer kritischen Edition dargestellt, d.h. faksimiliert und mit einer diplomatischen Umschrift versehen wiedergegeben. Die Darstellung der restlichen Texte wird von der oben genannten historisch-kritischen Methode abweichen, indem jeweils ein Text aus den Typoskriptabschriften konstituiert wird.


Im zweiten Teil des Projekts kommentiere und interpretiere ich die edierten Texte. Dabei wird zunächst der Kontext der Entstehung sowie eine begriffliche Klärung des Wortes Seminar – etwa im Unterschied zur »Sprachlehre« – herausgearbeitet. Da die Notwendigkeit des »Sprachseminars« in der Entstehung der nationalsozialistischen Diktatur gründete und Kraus sich gegenüber den politischen Veränderungen in Österreich und Deutschland für damalige Leser ungewohnt zurückhaltend verhielt – das publizistische Vorgehen gegen politische Missstände und Aufdecken korrupter Sachverhalte galt mitunter als Hauptaufgabe der Fackel –, scheinen die Entwürfe zum »Sprachseminar« sowie die erst posthum veröffentlichte Schrift Dritte Walpurgisnacht für Kraus eine mögliche sprachliche Auseinandersetzung mit den neuen politischen Umständen gewesen zu sein. Die Art und Funktion dieser neuen Form des Schreibens sowie Kraus’ Sprachauffassung sollen in einem dritten Teil demonstriert werden.

1 F 890–905, 168.

2 Ebd.

3 Bereits 1924 erwähnte Kraus ein ähnliches Vorhaben in Zusammenhang mit der Kritik an Rainer Maria Rilkes Übersetzung des Gedichts »O beaus yeux bruns« von Louise Labé. Kraus erläutert hier zwar die Notwendigkeit einer »Sprachschule« – »[e]s wäre die Ausfüllung des Semesters einer Sprachschule, die mir immer vorschwebt und in der ich mich verpflichten würde, in einer Stunde den Hörern mehr von dem Gegenstand beizubringen, als ihnen eine Leihbibliothek der deutschen Literatur vermittelt, und so viel gut zu machen, als zehn Jahrgänge deutscher Zeitungslektüre an ihnen gesündigt haben« –, führte den Plan allerdings nicht weiter aus. F 640–648, 54.

4 Vgl. ZPH 985, 139–150.

5 Ebd., 91.